
Ein Gastbeitrag von Anja Loft-Akhoondi, Annika von Niebelschütz und Valeska Huyskens
Hintergrundinformationen
Dieses Projekt ist Teil von „Smarte Schulen – SMASCH“, einer Initiative der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg im Rahmen des Bundesprogramms dtec.bw. Es wurde mit zwei ersten und einer zweiten Klasse an der Grundschule Archenholzstraße in Hamburg Billstedt durchgeführt. Über drei Phasen hinweg arbeiteten Lehrpersonen, Wissenschaftler:innen und Mediendidaktiker:innen gemeinsam mit den Schüler:innen daran, ein Buchstabenlernportfolio zu entwickeln.
Im Projekt arbeiteten verschiedene Schulklassen und Lehrpersonen zu unterschiedlichen Zeiten in einem multidisziplinären Team als gleichberechtigte Designpartner:innen zusammen (April 2023 – Mai 2024). Das „Co-Design-Team“ bestand aus: Schüler:innen der Archenholzstraße, Annika von Niebelschütz (Grundschullehrerin) und seitens Dtec.bw / SMASCH-Projekt aus Valeska Huyskens (Mediendidaktikerin) sowie Anja Loft-Akhoondi (wissenschaftliche Mitarbeiterin).
Gliederung des Beitrages
- Einleitung und Einblicke in den Co-Designprozess
- Klickmomente: Vom Lautgestenlexikon zum Buchstabenlernportfolio
- Reflexion über den pädagogischen Gewinn
- Anschlussfähigkeit und Inspiration für Deinen Unterricht
„Ich finde Fachunterricht in einer digitalen Umgebung wichtig, aber die Klasse müsste erst lernen, damit umzugehen – und dafür fehlt im Unterricht oft die Zeit.“
„An unserer Schule kämpfen die Kinder oft mit den Grundlagen. Partizipative Ansätze sind bei uns einfach schwierig umzusetzen.“
Vielleicht kommen dir diese Gedanken bekannt vor? Auch in unserem Co-Design-Projekt gab es anfängliche Reibungen und Verzögerungen. Doch genau diese Herausforderungen haben uns gezeigt, welches Potenzial im gemeinsamen Experimentieren, Nachdenken und Gestalten steckt.
Gemeinsam mit Erst- und Zweitklässler:innen haben wir an der Grundschule Archenholzstraße erlebt, wie durch scheinbar kleine Dinge – wie das Teilen von Tablets oder das kritische Hinterfragen der Grenzen automatisierter Funktionen – ungeplante Lernmomente entstanden. Diese Prozesse verbanden fachliche Inhalte mit sozialen und medienkritischen Kompetenzen und wurden selbst zu zentralen Lernelementen.
Was kannst du aus diesem Beitrag für deinen Unterricht mitnehmen?
Du erhältst Zugang zu unserem erprobten Buchstabenlernportfolio, das als Startpunkt für eigene Projekte dienen kann, sowie zu kompakten Unterrichtsplanungen mit Zeitangaben, Methoden und Lernzielen. Diese Materialien sind flexibel anpassbar. Du findest sie am Ende des Beitrages.
1. Einleitung und Einblicke in den Co-Designprozess
Alles begann mit der Idee, dass die Schüler:innen im Deutschunterricht zu jedem gelernten Buchstaben eine passende Lautgeste erstellen und in einem digitalen Lautgesten-Lexikon festhalten. Im nebenstehenden Video wird noch einmal erklärt, was Lautgesten sind. Das Ziel war ein umfangreiches Lautgesten-Lexikon, auf das die Schüler:innen im Unterricht immer wieder zugreifen und sich als Schreibhilfe nutzbar machen zu können. Doch was wir nicht erwartet hatten, war, dass diese Reise nicht nur ihre, sondern auch unsere Perspektiven und Pläne verändern würde. Die Kinder haben uns mitgenommen in ein Co-Designprojekt, das weit über den Schriftspracherwerb hinaus soziale, mediale und kreative Kompetenzen stärkte.
Am Anfang dieses Prozesses stand das das Setting: Tablets wurden aktualisiert und die Browser eingerichtet; wir haben uns methodische Werkzeuge überlegt und einen Zeitplan erstellt. In den ersten Stunden erschien uns die Aufgabe klar umrissen: Wörter zu den Buchstaben sammeln, sie fotografieren oder malen, ihren Klang aufnehmen, eine passende Lautgeste entwickeln und das alles auf einer Buchstabenseite dokumentieren. Das war der Rahmen, den wir gesetzt hatten.



Beispielseiten aus dem Portfolio (© SMASCH)
Doch während die Schüler:innen damit beschäftigt waren, ihre Buchstabenseiten zu gestalten, erkannten wir, dass sie nicht nur das Geplante umsetzten, sondern die Buchstaben als Ausgangspunkt für ihre eigenen kreativen Ideen nutzten: Sie experimentierten mit verschiedenen Darstellungsformen, brachten Wörter ein, die für sie persönlich wichtig waren, untersuchten ihre Klänge und Schreibweisen und verbanden sie mit ihren Alltagserfahrungen. In den nachfolgenden Beispielen zeigt sich in der Arbeit mit den Buchstaben R und K, wie sie die multisensorische und multimediale Auseinandersetzung mit Buchstaben ‚durch‘ Praktiken des Designens erweiterten.
Leo verband den Buchstaben R mit einer fantasievollen Geschichte über eine Rutsche, die in einen Pool führt, den er angeblich zu Hause hat.
Bei K entdeckte eine Arbeitsgruppe das Wort „Kacka“ und entwickelte daraus eigenständig Reime und die Schreibregel „ck“.
In beiden Beispielen verweben die Kinder ihren Lernprozess mit ihren eigenen Geschichten, stärken ihre Erzählkompetenzen und erarbeiten sich Rechtschreibregeln. Allesamt Kompetenzen, die im Lehrplan erst später vorgesehen sind. Diese Linearität brechen die Kinder „durch“ die Praktiken des Designens auf. All das geschah nicht, weil wir es ihnen gesagt hatten, sondern weil sie selbst den Impuls dazu setzten.
2. Klickmomente: Vom Lautgestenlexikon zum Buchstabenlernportfolio
Anstatt dem vorgegebenen Lernweg zu folgen, gestalteten die Schüler:innen ihn aktiv um: Sie eigneten sich die Buchstaben regelrecht an. Dieser selbstbestimmte Zugang regt die Kinder dazu an, Buchstaben auf individuelle Weise mit persönlichen Assoziationen zu verknüpfen und sie innerhalb ihres mentalen Wissensnetzwerks zu verankern. Dadurch erweitern die Kinder ihre Kompetenzen weit über die Lehrplanvorgaben hinaus.
Im Gegensatz zu den vorangegangenen Portfolio-Beispielen (siehe Bilder der Portfolioseiten) liegt der Fokus hier auf dem, was wir bei den Prozessen beobachtet haben: Die Kinder gestalteten den Lernweg neu, statt ihm nur zu folgen. Dieser Wandel findet sich zwar auch in ihren Portfolios wieder, doch viel spannender ist, wie sie durch das Gestalten Kompetenzen entwickelt haben, die weit über die Produktebene hinausgehen.
Das war ein Moment des Innehaltens für uns. Im Gegensatz zu den bisherigen Tabletstunden, in denen die Schülerinnen und Schüler das Gelernte wiederholt und geübt haben, sind sie nun ins Gestalten, Entwickeln und Produzieren gekommen. Wir erkannten, dass sie etwas schufen, das mehr war als das, was wir ursprünglich „Lautgesten-Lexikon“ genannt hatten. Die Kinder erarbeiteten nicht nur eine funktionale Sammlung von Buchstaben und Lautgesten, sondern ein persönliches, multimediales Werk, das ihre individuelle Auseinandersetzung mit den Buchstaben und Lauten reflektierte. Ihr Portfolio dokumentierte nicht nur, was sie gelernt hatten, sondern ‚wie‘ sie gelernt hatten. Es enthielt Geschichten, Bilder, Reime und Regeln, die die Kinder eigenständig entwickelten, und zeigte damit, wie Lernen „durch“ Design eine tiefere Ebene von Verständnis und Engagement ermöglichen kann. Diese eigenständige, gestalterische Auseinandersetzung führte dazu, dass aus dem Lautgestenlexikon etwas Neues wurde – ihr Buchstabenlernportfolio.
Die Schüler:innen haben uns dabei mitgenommen. Es war, als hätten sie das Projekt für sich entdeckt und ihm ihren eigenen Stempel aufgedrückt. Unsere Aufgabe bestand nicht mehr darin, ein Setting vorzubereiten und den Prozess zu steuern, sondern die Kreativität der Kinder und die didaktischen Ziele miteinander zu verweben. Das Buchstabenlernportfolio ist mittlerweile zu einem festen Bestandteil im Deutschunterricht geworden, wodurch nicht nur der Schriftspracherwerb um dieses Portfolio erweitert wurde.
3. Reflexion über den pädagogischen Gewinn
Im Co-Designprozess wurden die Kinder zu aktiven Mitgestalter:innen, was zunächst zu Reibungen führte – etwa bei der Partnerarbeit oder der Nutzung von Tablets. Diese Auseinandersetzungen nahmen zu Beginn Zeit in Anspruch, doch sie entpuppten sich als wesentliche Lernmomente. Im Plenum diskutierten die Kinder beispielsweise, wie die Zeit am Tablet gerecht aufgeteilt werden kann, und entwickelten Lösungen wie Sanduhren oder die Verteilung von Aufgaben nach Stärken. Mit der Zeit verschwanden die Reibungspunkte, und der Fokus verlagerte sich auf die Gestaltungsarbeit, die zugleich fachliche Arbeit war.
Für Lehrpersonen ist das eine ermutigende Erkenntnis: Auch wenn solche Prozesse zunächst zeitaufwendig erscheinen und scheinbar vom Fachlichen ablenken, tragen sie langfristig zu einer effizienteren und produktiveren Lernatmosphäre bei. Die Kinder lernten fair zu verhandeln und ihre Rollen im Team zu finden. Reibung wurde so zu einem Teil des Gestaltungsprozesses, wodurch das Projekt zu einem echten Mehrwert wurde – nicht nur im Fach Deutsch, sondern auch für die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder.
Im Co-Designprozess begegneten die Kinder ungeplant Momenten, die sie dazu herausforderten, Technologien kritisch zu hinterfragen – ohne dass dies von uns initiiert wurde. Ein Beispiel dafür war die automatische Objekterkennung, die beim Zeichnen mit Book Creator verfügbar ist. Während einige die automatische Funktion intuitiv nutzten, stießen andere im Prozess des Ausprobierens darauf, dass die vorgeschlagene Lösung – etwa eine Kirsche statt der gewünschten Paprika – nicht passte. Dieser Moment, in dem sie spürten, dass die Technik sie in ihrer kreativen Freiheit begrenzt, führte sie dazu, das System zu hinterfragen und eine eigene Lösung zu suchen. Manche entschieden sich, die Paprika frei zu malen, während andere mit der automatischen Funktion weiterarbeiteten. Der entscheidende Aspekt war jedoch nicht die Entscheidung selbst, sondern das bewusste Innehalten und die Reflexion darüber, welche Rolle die Technologie im kreativen Prozess spielt. Dieses „Darauf-Stoßen“ im Designprozess war entscheidend: Es eröffnete den Kindern die Möglichkeit, ihre eigene Haltung zur Technik zu entwickeln und eigenständig zu entscheiden, ob sie sie als Unterstützung oder als Hindernis wahrnehmen.
Diese unbeabsichtigten Auseinandersetzungen im kreativen Tun sind es, die kritische Urteilsfähigkeit fördern. Nicht durch Vorgaben oder Unterrichtsziele, sondern indem die Kinder durch ihre Erfahrungen lernten, digitale Werkzeuge zu hinterfragen und die Grenzen von Automatisierungen zu erkennen. Dieser Moment war ein erster Schritt hin zu digitaler Mündigkeit – nicht als fertige Fähigkeit, sondern als kontinuierlicher Prozess, in dem sie lernen, Technologien bewusst und reflektiert einzusetzen.
4. Anschlussfähigkeit und Inspiration für Deinen Unterricht
Die Idee eines Lernportfolios ist nicht neu – doch was unser Projekt besonders macht, ist, dass die Kinder dieses Format ‚durch‘ den Co-Designansatz hervorbrachten. Wie andere Lernportfolios auch, ist das Konzept nicht auf ein bestimmtes Fach, ein Werkzeug oder eine Methode beschränkt. In unserem Projekt standen Lautgesten im Mittelpunkt, weil sie für die Grundschule sinnvoll erschienen – doch das Prinzip lässt sich flexibel auf andere Themen, Jahrgangsstufen und sogar Fächer wie Mathematik, Kunst oder Naturwissenschaften übertragen.
Ebenso wenig ist die Wahl der digitalen Arbeitsumgebung festgelegt. Während wir mit Book Creator gearbeitet haben, könnte jedes andere geeignete Werkzeug verwendet werden. Entscheidend ist nicht das Tool selbst, sondern die bewusste Reflexion darüber, wie es die Lernpraktiken und pädagogischen Ziele unterstützt. Durch eigenes Ausprobieren und kritisches Hinterfragen können Lernende und Lehrende gemeinsam herausfinden, welche digitalen Werkzeuge am besten zu ihren Bedürfnissen passen.
Für Lehrkräfte, die sich von dem Co-Design-Ansatz inspirieren lassen möchten, bieten wir Vorlagen und komprimierte Unterrichtsplanungen, inklusive Zeitangaben, didaktische Methoden und Lernziele an. Diese Materialien sind nicht unbedingt als Blaupause gedacht, könnten aber als Startpunkt dienen, das Buchstabenlernportfolio weiterzuführen, es an eigene Themen anzupassen, den Prozess des Co-Designens nachzustellen oder ganz neue Ideen zu entwickeln.
Gebrauchsanweisung des Portfolios
- Die Links führen zu Book Creator.
- Dort kannst du das Buch über den Button ‚Remix‘ in deine Bibliothek ziehen.
- Du kannst die Bücher mit der kostenlosen Variante bearbeiten.
- Wir empfehlen die Browservariante, weil sie mehr Funktionen eröffnet.
Lizenzhinweis:
Das digitale „Buchstabenportfolio: Lautgesten und mehr“ steht unter der CC BY-NC-SA Lizenz. Annika von Niebelschütz, Valeska Huyskens und Anja Loft-Akhoondi sind als Urheberinnen zu nennen.
Das Projekt ist nicht abgeschlossen, sondern bleibt in Bewegung. Mit dem Thema „Nomen“ haben wir begonnen, neue Inhalte in das Portfolio zu integrieren. Um den Einstieg zu erleichtern, wurde das Thema zunächst als separates Buch angelegt, das aber langfristig problemlos ins bestehende Portfolio eingebunden werden kann.
Im Original-Buchstabenportfolio, das in der beteiligten Schulklasse verbleibt, sind die Kinder als reale Personen erkennbar. Ein herausragendes Merkmal unseres digitalen Buchstabenportfolios ist die Möglichkeit, die Bewegungen und Gesten der Kinder sichtbar zu machen, ohne ihre Identität preiszugeben. Durch den Einsatz von „Motion Design“ bleiben die Persönlichkeitsrechte der Kinder gewahrt. Für die technische Umsetzung haben wir mit einem spezialisierten Filmdienstleister zusammengearbeitet. Bisher gibt es leider noch keine frei verfügbare Anwendung dieser Art auf dem Bildungsmarkt.
Wir, die Autor:innen, sind überzeugt, dass die Umwandlung von realen Kinderfotos und -videos zwecks Anonymisierung und Wahrung ihrer Persönlichkeitsrechte wesentlich für die Partizipationsreichweite von Kindern ist. Auf diese Weise könnte die Sichtbarkeit von Kindern in ihrem Bildungsprozess zu einem festen Bestandteil moderner und partizipationsorientierter Bildung werden.
Auf der SMASCH-LABCADEMY unter https://moodle.smasch.eu/ erhältst du weitere Informationen, Erklärvideos und Bildungsressourcen zu diesem Teilprojekt sowie zu sechs weiteren Projekten, die im Rahmen von dtec.bw/SMASCH entstanden sind und dir viele innovative Ideen und praktische Hilfen zur Umsetzung im eigenen Unterricht bieten.
Materialien zum Ausprobieren
Unterrichtsplanung: Stunde 1 – Einführung in das Unterrichtsprojekt und erstes Arbeiten mit Book Creator
Unterrichtsplanung: Stunde 2 – Produktion von Videos mit Lautgesten und Fertigstellung der Buchstabenseiten
Unterrichtsplanung: Stunde 3 – QR-Codes scannen, Buchstaben zuordnen und Buchseiten weiterentwickeln
Unterrichtsplanung für Lautgestenartikel Schere, Stein, Papier spielen
In unserem “Schaufenster in Schule” stellen wir euch regelmäßig gelungene Beispiele der digitalen Schul- und Unterrichtsentwicklung aus Hamburger Schulen vor. Frei nach dem Motto: “Stöbern, Entdecken, Ausprobieren und Vernetzen!”, wollen wir euch dazu anregen, voneinander zu lernen und eure Schulen gemeinsam digital zu entwickeln.