Definitionen: Felix Stalders "Kultur der Digitalität"


„Bildung unter den Bedingungen der Kultur der Digitaliät“ – ein häufig genutzter Begriff, der eine Bildung beschreiben soll, die zeitgemäß oder zukunftsgewandt ist.
Aber was heißt „Kultur der Digitalität“?

Felix Stalder ist Professor für Digital Culture an der Zürcher Hochschule der Künste. Im Jahr 2016 erschien sein Essay „Kultur der Digitalität“ im suhrkamp-Verlag. Stadler nutzt diese Begrifflichkeit, um die heutige Welt und die in Zukunft mögliche Welt zu beschreiben – eine Welt, die eigentlich aus mehreren Welten besteht. Welten, die einen technologiegetriebenen, strukturellen Wandel mit gravierend neuen, kulturellen Bedingungen verbinden.
Um die Grundlagen des Konzepts „Kultur der Digitalität“ zu verstehen, ist eine Erläuterung von fünf Begriffen notwendig:

Digitalität I

Digitalität ist eine kulturelle Bedingung.
Sie findet nicht an digitalen Endgeräten statt. Es geht nicht um die Dychotomie: analog vs. digital, sondern, nach Stadler ist die Digitalität eine Ordnung des Selbst und der Menschen zueinander und zu Dingen. Es geht also um die Bedingungen der Welt und wie man/frau/div. in der Welt handeln kann.

Kultur

Der Kulturbegriff nach Stadler ist die Verhandlung von sozialer Bedeutung, das heißt: wie kommt eine Gruppe zu einem Konsens über Bedeutungs- und Wertefragen? Kultur kann interpretiert werden, ist aber vor allem handlungsweisend und handlungsermöglichend. Das heißt die Frage: „Wie wollen wir leben?“ wird verhandelt. Kultur bestimmt somit also vor allem die Richtung des Zukünftigen: „Wie sollen wir uns verhalten?“
Es gibt nie einen absoluten Konsens. Dennoch gibt es Gruppen, die ihre Ansichten eher für legitim erklären können als andere. Dies nennt man: normative Setzungen. Diese sind heute aber schwieriger geworden; denn der Referenzrahmen, um Fragen auszuhandeln, ist komplexer und widersprüchlicher geworden. Diese Komplexität ist eine Herausforderung; das wiederum macht einfache Antworten heute so attraktiv.
Kultur hat sich verändert: Sie wird heute gestaltet von mehr Menschen, auf mehr Feldern, mit komplexeren Technologien.
Mehr Leute beteiligen sich aktiv an Kultur (der Verhandlungen von essentiellen Fragen). Zusätzlich erlauben eine soziale Liberalisierung und Multikulturalität einen Wertepluralismus. Auf mehreren Feldern ergeben sich kulturelle Fragen. Verhandlungen von Fragen sind in komplexe Technologien eingebunden.
Daraus ergaben und ergeben sich neue Methoden und Schwerpunkte beim Verhandeln von essentiellen Fragen, beispielsweise: eine Abkehr von linearen, hierarchischen Prozessen, hinzu: Prozess-Orientierung, Feedback, Partizipation, Interdisziplinarität, Ökologie, Konsum, (Re-)Branding, Informationsgesellschaft, biologische Prozessen, Geo-Engineering, … also eine stete Ausweitung von Werteentscheidungen und Fragen: Wir müssen handeln, aber es gibt kaum einen Konsens dazu wie.
Das führt zu einer Krise der etablierten Institutionen der Meinungsbildung. Sie können die Ausweitung von Themenfeldern nicht mehr abbilden. Sie sind überfordert von der Vielzahl und Komplexität an Feldern und Meinungen.
Mit der Verbreitung des massentauglichen Internets (ungefähr seit dem Jahr 2000) entstehen neue Institutionen der Meinungsbildung. Es entstehen soziale Netzwerke. In sozialen Netzwerken folgt die Meinungsbildung neuen Selektions- und Bewertungsmechnismen. Diese sind: Referentialität, Gemeinschaftlichkeit, Algorithmizität.

Referentialität

Das Bündeln der eigenen Aufmerksamkeit bedeutet, dass jede:r sich einen Weg durch die Übersichtlichkeit schafft; jede:r wählt Inhalte aus, die für sie:ihn wichtig sind. Durch „liken“ und „sharen“ entsteht so ein individueller, sozialer Bedeutungshorizont. Dieser basiert also auf Referenzketten.

Gemeinschaftlichkeit

Dieser (digitale) individuelle, soziale Bedeutungshorizont bildet einerseits die (digitale) Welt ab, wie der:die Einzelne sie wahrnimmt, andererseits konstruiert sie den:die Einzelne:n in dieser (digitalen) Welt. Jede:r wird zu einer (digitalen) Person, die bestimmte Dinge interessant findet und dieses anderen mitteilt, indem er:sie diese likt oder teilt. Durch diese Auswahl kann das Gegenüber sich ein Bild von der jeweiligen (digitalen) Person machen. Beispiel: A likt einen Post von C. B likt ebenfalls einen Post von C. A und B verbindet, dass sie den Post von C liken, bilden also eine kleine (digitale) Gemeinsamkeit und bilden mit anderen, die dasselbe liken ebenso eine (digitale) Gemeinschaft.
Die Unübersichtlichkeit überfordert jede:n Einzelne:n, deshalb schafft das Liken eines Posts durch den:die Einzelne:n noch nicht eine kulturelle Bedeutung, nur wenn dieses durch eine Gemeinschaft geschieht. Ein einzelnes Like wird durch andere Likes validiert; so werden einzelne Likes zu einer Gemeinschaft miteinander verbunden. Dies erweitert die Gemeinschaft und bildet gleichzeitig einen geteilten, kulturellen Horizont. Die Gruppengröße der Gemeinschaften variiert. Auch die Ansichten der Gruppen können diametral unterschiedlich sein. Das heißt, wir teilen nicht mehr eine (digitale) Realität. Verhaltensfragen der Zukunft werden nur vor dem geteilten Bedeutungshorizont gemeinsam ausgehandelt, nicht in der Gesamtgemeinschaft. Der Bedeutungshorizont begrenzt die möglichen Handlungen.

Algorithmizität

Die Informationen und Daten der Welt sind zu komplex, zu umfangreich, zu vielfältig, um von uns wahrgenommen zu werden, deshalb nutzen wir Maschinen, die die Welt für uns selektieren, reduzieren und vorsortieren. Dies nennt Stadler „algorithmische Vorsortierung“. Erst auf Basis der für uns vorsortierten Welt (vgl. Google Suchanfragen), reichen unsere menschlichen Kapazitäten aus, um uns individuell und/oder mit anderen gemeinsam ein Werturteil bilden zu können.
Das ist ein Problem; denn die Maschinen generieren eine Welt, die ohne die Maschinen selbst nicht vorhanden wäre. Dieses Selektieren, Reduzieren, Vorsortieren und Generieren der Welt ist eine Form von Macht, die schwierig zu greifen ist. Es entstehen also neue Formen von Macht: Datenerhebung, Datenauswahl, Algorithmusdesign, algorithmische Modelle; keine dieser ist objektiv.

Digitalität II

Stadler folgert, wir befänden uns in einer Krise der Repräsentation der Institutionen, die die Welt bisher für uns geordnet hätten. Sie könnten den Bedeutungshorizont, den Referenzrahmen nicht mehr für alle verbindlich machen; sondern diese Institutionen würden zunehmend irrelevant. Es würden aber auch neue Institutionen entstehen, die zum Teil äußerst widersprüchlich seien. Diese eröffneten neue, politische Räume.
Daraus folgt, dass es verschiedene Organisationsmodelle innerhalb der Bedingungen der Digitalität gäbe:
1. post-demokratisch, das heißt konkret: einerseits eine Ausweitung von Beteiligungsmöglichkeiten, aber gleichzeitig eine Zentralisierung von Macht (vgl. das Unternehmen Meta).
2. auf Diskussionen basierte, kollektive, demokratische Entscheidungen (vgl. Wikipedia)

In welche Richtung sich unsere Gesellschaft entwickelt, ist noch offen.

Was bedeutet nun „die Kultur der Digitalität“ für den Bildungsbereich?

Wenn wir von „Bildung in einer Kultur der Digitalität“ sprechen, sprechen wir also nicht davon, wie analoger Unterricht „digitalisiert werden kann“, sondern, wie die neuen, oben beschriebenen, grundlegend neuen, gesellschaftlichen Voraussetzungen, nämlich jene einer „Kultur der Digitalität“ Bildung verändern müssen.
Nehmen wir die „Kultur der Digitalität“ als Grundlage didaktischer Überlegungen, müssen alle Aspekte von Bildung gemeinschaftlich neu ausgehandelt werden. Diese Überlegungen haben folgende Fragen im Mittelpunkt: Welche der beschriebenen Zukunftsszenarien wollen wir erreichen? Und wie, von wem, wo wird Bildung gestaltet, um diese zu erreichen?

Diese Zusammenfassung der Begrifflichkeiten Stalders basiert zu großen Teilen auf Prof. Felix Stalders Vortrag „Kultur der Digitalität“ für das Forum für Universität und Gesellschaft, 2019.

Weitere Informationen:
– Text: Wampfler, Philippe: „Technik und Pädagogik in einer Kultur der Digitalität“. schulesocialmedia.com, 2020.
– Text: Blume, Bob: „DISKUSSION: Kultur der Digitalität – eine kritische Betrachtung“. bobblume.de, 2021.
– Video: Mihajlović, Dejan; Wampfler, Philippe: „Gedankenschach – Was bedeutet Kultur der Digitalität?“. 2020.
– Video: Die Deutsche Schulakademie: „Wie verändern sich Lehr- und Lernräume in einer Kultur der Digitalität?“. 2020. (Ein Video von Micha Pallesche und Prof. Dr. Uta Hauck-Thum im Rahmen der Online-Themenwoche „Digitale Schule? Auf den Kulturwandel kommt es an!“ 20.–26. September 2020.)

Bild: Colourbox.de